HB_2023_09_10
NUMMER 9-10/2023 91. JAHRGANG OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “ Eleonora Bliem-Scolari Die Friedenssiedlung in Lienz 1955 – 1968 Kunst am Bau als mitgedachter Teil einer Siedlung Aus dem Heute betrachtet gleicht die medial nach außen kolportierte Aufbruchsstim- mung nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Österreich im Mai 1945 einer kollektiven Antisystem-Bewegung. Eine Stimmung, die bis zu jenem Umkehrpunkt eine ideolo- gisch nationalistisch durch- wucherte, menschenverach- tende Geisteshaltung oft widerstandslos mittrug und sich nach 1945 nun zu wan- deln hatte. Zerstörung, Flucht und Armut spielten eine Rolle. Die hochprekäre soziale und volkswirtschaftliche Situation eines sehr großen Anteils der Bevölkerung so- wohl im urbanen als auch im ländlichen Raum sollte mit einem effizienten und mit öffentlichen Geldern gesteuerten Aufbau- programm deren Kriegstrauma verringern helfen. Von dem beträchtlichen Wirtschaftsför- derungspaket der USA, dem „European Recovery Program“ (Marshallplan) profi- tierte u.a. auch Österreich, obwohl einstiger Kriegsgegner, zwischen 1948 bis 1952 in Form von Großkreditzahlungen, Lebens- mittellieferungen oder anderen Nutzgütern. Der damit provozierte nationalökono- mische Neustart, der in Europa mit der so genannten „Aufbaugeneration“ vollzogen werden musste, vermag jedoch nicht die gesellschaftlichen Verwerfungen und die Kargheit der Lebensbedingungen der Nachkriegszeit vergessen lassen. Diesem Zustand konnte man nur mit zukunfts- orientierter Bestimmtheit entgegnen. Speziell der Blick auf die Bevölkerungs- statistik der Bezirksstadt Lienz erlaubt, Rückschlüsse auf demografische Entwick- lungsprozesse vorzunehmen. Bei der Volks- erhebung 1934 zählte man 6.885 Einwoh- nerinnen und Einwohner (1939 wurde Patriasdorf eingemeindet), nach dem Krieg ist diese Zahl 1951 bereits auf den Wert von 10.096 angestiegen und begann sich bis ab 1971 (11.741) beständig einzupendeln (Quelle: Statistik Austria). Die Besiedelung in relativ kurzen Zeit- intervallen erklärt sich weniger durch die Prosperität der Stadt als vielmehr durch Fluchtbewegung und Zuwanderung wäh- rend und nach dem Krieg. Die Umsied- lungspolitik der deutschen „Reichsfüh- rung“ mit der Wahl zur Option ab Oktober 1939 ist Teil davon. Zwischen 1939 und 1942 ließ dazu das Stadtamt Lienz unter Bürgermeister Emil Winkler (im Amt 1938–1945) imAuftrag der Neuen Heimat Klagenfurt und unter der Bauaufsicht des Lienzer Architekten Sepp Wolfgang auf dem so genannten Mühlanger (zwischen Andreas Hofer-Straße und Hermann von Gilm-Weg) in Lienz einen annähernd ge- schlossenen Siedlungsverband in locker ausgeführter Wohnblockverbauung mit 49 Häusern und Nutzgärten für die Selbst- versorgung errichten. Die unterschiedlich großen Wohneinheiten waren in erster Überlegung für Südtiroler Schnitzkünstler- Familien aus dem Grödental als Mieter- schaft bestimmt, die ihrerseits jedoch in andere Gaue ab- bzw. auswanderten. 1 Bis Kriegsende hatten in den 239 Wohnungen der „Grödner Sied- lung“ am Mühlanger übrigens nur mehr rund die Hälfte der Menschen einen Op- tions-Hintergrund, und von diesen hatten nur mehr an die 8 % Grödner Wurzeln. 2 In weiterer Verdich- tung der Ereignisse wurde bereits 1938 von der Deutschen Wehr- macht am Grafen- anger im Norden der Stadt ein großdimen- sioniertes Baracken- lager errichtet, das zu- erst als Soldatenunter- kunft genützt wurde. Nach demAusrückbe- fehl an die Front Ende 1939 wurde die Barackenanlage für einige Monate zum Kriegsgefangenen- bzw. zumArbeitslager für polnische und ab 1941 für französische Offi- ziere und Soldaten anderer Nationen. 3 Das große Barackenlager am Grafenanger und später drei weitere, kleinere Lager (Stadtteil Peggetz, im Draupark und Nußdorfer Straße) 4 dienten im Verlauf des Kriegs als Behausung für Kriegsgefangene und Flücht- linge einerseits und als Lazarettstelle für die verwundeten Kriegsheimkehrer andererseits. Ausgelöst durch die erheblichen Bom- benschäden, die in Lienz insbesondere kurz vor Kriegsende zu verzeichnen waren, be- deutete für hunderte einheimische und nicht ortsansässige Betroffene mit unterschied- lichstem nationalen, politischen und sozio- kulturellen Hintergrund der Verlust von Wohnraum und Existenziellem nunmehr den Verbleib in der Holzbarackenanlage als deren voraussichtliches Zuhause. Die Arbeitskraftleistung dieser Menschen trug damit nicht unerheblich zum wirtschaft- lichen Aufschwung bei, was hier ebenfalls zu erwähnen ist. Der Akt des Wiederaufbaus gilt daher als eine der größten Herausforderungen (nicht nur) der Lienzer Nachkriegsstadtführung. Blick über die Friedenssiedlung im Sommer 1962 vom Gelände der Brauerei Falkenstein aus. (TAP – Sammlung Foto Baptist) Foto: Alois Baptist
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